Die besten vier Minuten auf YouTube.
In jeder Minute werden 500 Stunden Videomaterial auf der Plattform YouTube hochgeladen. Von Katzenvideos über Mathetutorials – die Plattform eignet sich ausgezeichnet, um in ihr zu versinken. Jedes einzelne Video zu schauen scheint unmöglich, Nick Wilcke ist aber trotzdem der Meinung, die besten vier Minuten gefunden zu haben.

Foto: „Youtube“/Unbekannt -CC0
Über Kunst zu schreiben ist schwer, über Comedy zu schreiben noch viel schwieriger. Die Stilkritik im Feuilleton findet meist von oben herab statt. Bücher werden verrissen, Filme mit einem Stern abgestraft und Spiegel-Bestseller für Schund erklärt. Das driftet oft ins Prätentiöse ab – manchmal sogar ins Lächerliche. Wer mir das nicht glaubt, der lese doch bitte einmal die aktuellen Kritiken zu Benjamin von Stuckrad-Barres Buch „Noch wach?“. Ein ganzes Ressort scheint da gerade in der Selbstfindungsphase zu sein.
Deshalb wird sich in diesem Text – so wie in diesem ganzen Ressort – nicht aufgeregt, nichts schlecht geredet und kein Kunstschaffender für dumm erklärt.
Nicht, weil man es nicht könnte – sich aufzuregen ist leicht. Sondern vielmehr, weil es schon genug Kritik gibt. Warum nicht auch mal im Kulturteil loben? Einfach mal freundlich sein. Ganz nach dem Motto – um an dieser Stelle Satre zu paraphrasieren:
„Die Kritiker, das sind die anderen.“
Auf den letzten Drücker
Aber jetzt zur Sache: Worum geht es eigentlich in den – von mir bestimmten – besten vier Minuten auf YouTube? Um die Genialität von „Dear Sister“ zu begreifen, muss man seine Entstehungsgeschichte kennen.
Reisen wir 16 Jahre in die Vergangenheit. Wir befinden uns im April 2007. Das „Lonely Island“ Comedy-Team, bestehend aus Akiva Schaffer, Jorma Taccone und Andy Samberg, hatte in den letzten Monaten jede Woche einen Kurzfilm für das Programm von Saturday Night Life (SNL) gedreht. Langsam gehen den drei allerdings die Ideen aus. Die Woche vergeht und auf einmal ist es Freitag und das Trio hat noch keine Idee, was sie am nächsten Tag bei SNL zeigen wollen. Also blödeln sie ein wenig herum und da fällt es ihnen ein: Warum nicht einfach diese eine „O.C.“ Szene parodieren?
Viele in meinem Alter werden jetzt mit den Schultern zucken. „O.C.“ – was ist das?
„The O.C.“ ist eine Fox Serie, in dessen Staffel-Finale der Charakter Marissa (Mischa Barton) Trey (Logan Marshall-Green) erschießt. Nachdem sie den Schuss abfeuert, ertönt das Lied „Hide and Seek“ von Imogen Heap („Mmm Whatcha Say“).
Dumm, aber genial
Das SNL-Trio dachte sich nun also: Wieso nicht diese Stelle parodieren?
Die Deadline für die Abgabe ihres Kurzfilms nährt sich. Also buchen die drei ein Hotelzimmer, fragen unter anderem Bill Hader und Shia LaBeouf, ob sie mitspielen wollen, und fangen an zu drehen. Herausgekommen ist: „The Shooting AKA Dear Sister“. Die Handlung jetzt stumpf nachzuerzählen wäre sinnlos und könnte den komödiantischen Effekt unmöglich widerspiegeln, aber kurz gesagt, schreibt ein Mann einen Brief an seine Schwester, ein Freund erschießt ihn aus dem Nichts, ein anderer Freund kommt hinzu und alle fangen an sich gegenseitig zu erschießen. Danach kommt noch die besagte Schwester und zwei Polizisten hinzu. Und wer hätte es gedacht: auch sie fangen an sich gegenseitig zu erschießen. Jeder Mord wird dabei von „Hide and Seek“ begleitet.
Was klingt, wie eine Gruppenarbeit in „Audiovisuelle Medien“ die auf den wirklich aller letzten Drücker entstanden ist, ist genau das: Herrlich dämlich und gerade dadurch unfassbar genial.
Seiner Zeit voraus
Aber warum finde ich nun solche – vermeintlich stumpfen – vier Minuten so genial, wo ich zu Beginn dieses Textes noch Satre paraphrasiert habe?
„Dear Sister“ ist gerade dadurch genial, dass der Film seiner Zeit voraus ist. Was heutzutage als „Internethumor“ beleidigt und in jeder dritten Folge Rick and Morty als humoristisches Werkzeug genutzt wird, haben Schaffer, Samberg und Taccone schon vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten gemeistert: die Kunst des ad-absurdum-führens.
Bei diesem Humor geht es nicht darum, ihn zu verstehen, zu diskutieren oder gar zu analysieren. Es geht darum, zu akzeptieren, dass etwas witzig ist – oder eben nicht. Diese Art des absurden Humors stellt keine großen gesellschaftlichen oder politischen Fragen, sondern nimmt die Absurdität der Welt an, sowie Camus es in „Der Mythos des Sisyphos“ vorschlägt.
Der Film ist eine Reaktion auf eine immer absurder werdende Welt, in der gescheiterte Immobilienmogule Präsidenten werden und der Amazonas gerodet wird, während Amazon Milliardenerlöse verzeichnet.
Der Witz und seine Beziehung zum Internet
Gerade in Zeiten des Internets, des nahezu unlimitierten Konsums, der Verfügbarkeit von nahezu allen Informationen, ist die Sinnlosigkeit eines Witzes seine letzte Bastion. Seine bloße Existenz ist der Witz. Eine sinnvolle Komödie macht einen Witz einmal, vielleicht zweimal, aber höchstens dreimal. „Dear Sister“ macht denselben Witz mehr als ein Dutzendmal. Im Internet ist eben keine Punchline notwendig, es reicht, ein Toastbrot in eine Mikrowelle zu stecken und ein Video davon hochzuladen.
Das mag man nun dämlich finden und wenig kreativ, schlussendlich ist der Witz etwas völlig Subjektives. Es soll schließlich auch Menschen geben, die über Dieter Nuhr lachen.
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