Die Klausur - Unprüfbar
Es mutet an wie Kafka, und es fühlt sich auch so an: In einer Welt aus virtuellen Labyrinthen und technischen Irrungen wird der Prüfling unfreiwillig zum Akteur eines digitalen Dramas.
Als der Prüfling eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, sah er sich in eine Figur verwandelt, die für die nächsten Stunden Teil eines Kafka-Stücks zu sein scheint. Begleitet vom Knarzen der Dielen seiner Altbau-WG, macht er sich auf den Weg in die Küche. Mangels Alternativen macht er sich ein sogenanntes Müsli. In einer Stunde ist es soweit: die zweite Klausur im Semester. Die erste hatte er mit gutem Gefühl hinter sich gebracht. Die nächste liegt nur vor ihm. Doch diese Klausur ist anders – anders als alle Klausuren, die er bisher in seinem Leben geschrieben hat: sie findet nämlich online statt. Warum ist ihm nicht klar, doch er ist auch nicht im Recht, dies zu hinterfragen. Die Logik dessen war ihm trotzdem alles andere als unerschütterlich vorgekommen. Sein WLAN machte in den letzten Wochen immer wieder Probleme, sich für die Präsenzklausur anzumelden, hat er allerdings versäumt. Nun sitzt er also vor seinem Laptop, neben ihm Gesetzestexte, bunt markiert. Daneben zwei weiße Blätter. Also macht er sich auf, in den digitalen Raum, in dem die Klausur geschrieben wird.
Die Systeme seines Computers hat er “gecheckt”, wie es neudeutsch heißt, na ja wohl eher “checken” lassen. Das Programm hatte ihm wiederholt den Segen gegeben. Technisch und psychisch vorbereitet klickt er das blaue, verheißungsvolle Feld “Beitreten” an und wartet. Vor ihm nur ein Kreis, der Kreis scheint wie ein Tanz um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht – nämlich sein Wille, nun doch bitte endlich diese verdammte Klausur schreiben zu dürfen. Die Uhr tickt, der Minutenzeiger nährt sich seinem Zenit. Die Uhr schlägt neun, die Klausur hat begonnen, der Eingang ist ihm immer noch verwehrt. Alle sonst hatten Einlass erhalten, dieser Eingang schien nur für sie bestimmt gewesen zu sein. Der Türhüter hatte ihn für den Prüfling geschlossen. Oder in Computersprache: „This Session is timed out“.
Jemand musste den Prüfling verleumdet haben, denn, ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er dieses einen Morgens von der Klausur ausgeschlossen.
Verzweifelt wählt er unterschiedliche Nummern. Keiner kann ihm helfen, man werde das Problem „intern besprechen“, man werde „sich wieder melden“. Ob Ersteres passiert ist, kann der Prüfling nicht wissen, dass Letzteres nicht passiert ist, dessen ist er sich sicher.
Vom Programm besiegt, macht er sich auf den Weg zur Universität. Er will, dass ihm jemand sagt, was jetzt los ist, was er tun kann, was die Universität tun kann.
Die Züge tragen ihn zum Campus – die Fahrt, die längste Dreiviertelstunde seines noch jungen Lebens, verlief störungsfrei. Wenigstens etwas an diesem Tag.
Wütend stampft er die Treppen hinauf und sieht sich den Mitarbeitern gegenüber. Bereit, Himmel und Hölle über sie hereinbrechen zu lassen, setzt er an. Aber er merkt schnell: Die Verwirrung reicht hier weiter. Sein Schicksal ist kein Einzelfall. Täter und Opfer gibt es hier nicht. Immer noch wütend, aber nun etwas beruhigter, macht er sich auf den Heimweg. Die Klausur wird er wohl in einigen Monaten nachschreiben müssen. In der Bahn muss er immer wieder an eines seiner liebsten Zitate denken: „Der Computer löst Probleme, die man ohne ihn gar nicht hätte.“
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