Tschüss Berlin
Die deutsche Hauptstadt gilt als Sehnsuchtsort für alle, die von persönlicher und beruflicher Entfaltung träumen. Abenteuer, Karriere, Entwicklung – hier scheint alles möglich. Doch Berlin ist viel mehr Zustand als Heimat. Es ist Zeit wieder zu gehen. Ein Kommentar.

Foto von Shvets Anna
Für viele junge Menschen beginnt Veränderung mit einem Umzug. Großstadt oder nichts – so lautet oft die Devise. Wie soll das Leben schon aussehen, wenn man nicht in eine pulsierende Metropole zieht? In deinem schwäbischen Dorf kannst du doch nicht einmal studieren! Die Angst, immer dieselben Gesichter in der Supermarktschlange, an der Bushaltestelle oder auf dem Wertstoffhof zu sehen, wird erdrückend. Die Frage drängt sich auf: „Willst du in deinem „Kaff“ versauern oder endlich etwas aus dir machen?“ Der Gedanke, sein gottgegebenes Leben selbst in die Hand zu nehmen, wird zur treibenden Kraft: Die Vorstellung, wie das Leben in einer Großstadt aussehen könnte – mit all der rechtlich erlangten Volljährigkeit und auferlegten Verantwortung ist der Kompass und schreit nach einem Neuanfang.
Eine Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten
Eine Stadt, in der du alles studieren kannst – von Blockflöte über Puppenspiel bis hin zur Wissenschaft des Spazierengehens. Wo du keine Angst haben musst, ohne Job dazustehen, weil der Bubble-Tea-Laden an der Ecke immer jemanden sucht, der für 3€ die Stunde die Bobaperlen auffüllt. Wo Langeweile ein Fremdwort ist, denn hier leben 3,5 Millionen Menschen mehr als in deinem Heimatdorf. Das bedeutet: Tausende potenzielle Freunde, mit denen du am Wochenende die angesagtesten Techno-Clubs unsicher machen oder die alternative Barszene erkunden kannst – Espresso Martini inklusive, natürlich überteuert. Vielleicht traust du dich sogar in einen dieser Schuppen mit fragwürdigem Dresscode. „Ohne Unterhose“? Wäre doch mal was Neues.
Hast du dir nach 12 Jahren Schule nicht verdient, deine Jugend gebührend zu feiern? Eine Stadt voller Möglichkeiten wartet darauf, von dir erobert zu werden – und mit ihr ein Leben, das endlich so bunt und verrückt ist, wie du es dir immer vorgestellt hast.
Mir einzureden, dass zu Hause alles schlecht sei, nur um zu rechtfertigen, dass es anderswo besser ist, war meine jugendliche Methode, vor meinen Sorgen davonzulaufen. Den Plan, nach Berlin zu ziehen, schmiedete ich schon lange, bevor ich überhaupt wusste, was ich dort wollte. Hauptsache weg, dachte ich. In die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten, das Tor zur offenen Welt, die Superlative. „Dort wirst du deine Bestimmung finden“, redete ich mir ein.
Also flog ich wie ein Zugvogel, getrieben von einem unsichtbaren Magnetfeld, an einen Ort, den ich nicht einmal kannte. Doch jetzt, mehr als zwei Jahre später, ist Schluss. Mich zieht es in die perspektivenlos-geglaubte Heimat zurück.
Alles Veranlagung?
Ich erinnere mich daran, wie ich meiner Mutter als Kind einredete, dass wir unbedingt mal nach Berlin fahren müssten. Schließlich sei sie ja die deutsche Hauptstadt und es sei nicht gerechtfertigt, dass ich die französische zuerst gesehen habe. Ich hatte mich schon immer für große Städte interessiert. Am Ende einer Städtereise brachte ich oft die Miniaturversion einer lokalen Sehenswürdigkeit mit nach Hause, die ich stolz auf meinem Regal über dem Bett platzierte, als wären sie eine Trophäe. Diese kleinen Objekte wurden zu Symbolen meiner vermeintlichen Weltgewandtheit: Eine Glaskugel von Hollywood und eine Mini-Skyline von New York City, die ich von meiner Schwester nach ihrer USA-Reise bekam, ließen mich fühlen, als wäre ich selbst dort gewesen.
Das Brandenburger Tor, mitgebracht von meinem Vater, behielt ich besonders in Ehren und ich nahm mir fest vor, eines Tages selbst die Stadt zu besuchen und die Sammlung mit einer Mini-Siegessäule zu ergänzen – ein Souvenir, das ich mir dann aber eigenhändig kaufen würde. Von allen möglichen Reisezielen hatte mich Berlin am meisten begeistert.
Der magische Pull-Faktor
Doch was zieht Menschen eigentlich nach Berlin? Es sind die Geschichten, die diese Stadt so aufregend machen. Schon der Name allein klingt kosmopolitisch. Jeder kennt Berlin, jeder kann darüber ein Wort verlieren – ob gut oder schlecht. Wenn so viele über diese Stadt sprechen, muss sie etwas Besonderes haben. Und ich wollte unbedingt herausfinden, was das ist.
Die Zeit zwischen meinem Abitur und dem Studium in Berlin nutzte ich, um mich intensiver mit der Stadt auseinanderzusetzen. Noch eben lernte ich, dass sie die Heimat des Epischen Theaters von Bertholt Brecht war, was mir in meinem Abiturfach Literatur und Theater begegnete. Ich wusste, dass Marlene Dietrich aus Berlin stammte und dass in der Nähe, im Filmpark Babelsberg, weltbekannte Blockbuster produziert wurden. Gerade kulturell hat Berlin vom weltbekannten Nachtleben, bis hin zu Theater- und Filmkultur jede Menge zu bieten, genauso sehr wie es wahrscheinlich die geschichtlich interessanteste Stadt der Welt ist. Und sogar in jener Stadt befindet sich unsere Bundesregierung. Was für ein interessanter Mix aus meinen Privatinteressen und allemal interessante Umgebung für ein Journalismus-Studium! Journalist in Berlin – klingt gut, dachte ich mir!
Doch erst, wenn man in Berlin lebt, begreift man, dass die Stadt nicht das ist, was man sich erhofft hat. Sie eilt ihrem Ruf voraus, und unabhängig davon, welche Bedeutung sie als Hauptstadt hat, wird sie der Vorstellung eines besseren Lebens oft nicht gerecht.
Typisch Berlin
Die hohen Mietpreise zwingen viele – mich eingeschlossen – dazu, in WGs zu wohnen. An sich eine romantische Idee: gemeinsames Kochen, sich beim Putzen abwechseln, gelegentlich zusammen fortgehen und sich dazwischen in Ruhe lassen. Doch die Realität sieht anders aus. In den beiden Unterkünften, in denen ich bisher lebte, war es schon dreckig, als ich einzog – und das ist in Berlin keine Seltenheit. Von der schwäbischen Kehrwoche fehlt hier jede Spur, und in solchen vier Wänden fühlt man sich einfach nicht wohl. Statt Harmonie herrschten oft Spannungen: In meiner ersten WG war Besuch, selbst von meiner eigenen Familie, kaum erwünscht – schließlich könnte er das Waschbecken benutzen.
Das allgemeine Rauchverbot ignorierte mein Mitbewohner jedoch und drückte seine Zigaretten heimlich neben dem Bett aus. Ich sagte nichts, aber als der Vermieter schließlich seine Wohnung verkaufen musste, war ich erleichtert und suchte eine neue Unterkunft. Die neue WG entpuppte sich als noch schlimmer: schwarzer Schimmel, defekte Fliesen und ein Rohrbruch. „Ist halt ’ne Bruchbude“, kommentierte mein Mitbewohner beiläufig gegenüber meiner kleinen Schwester, als sie mich besuchte. Nett, dass er das nach einem Jahr endlich zugegeben hat.
Freunde in Berlin zu finden, ist ebenfalls eine Herausforderung. Viele Menschen sind nur hier, um eine schwierige Phase ihres Lebens zu überwinden. Ich traf jemanden, der sein Medizinstudium ausgerechnet an der Charité absolvieren musste, da es in keiner anderen deutschen Uni für ihn geklappt hatte – er kam aus München und tat mir fast leid. Oder den jungen Mann aus Istanbul, der hier das große Geschäft machen wollte, aber kaum Deutsch sprach – für ihn wäre London wohl die bessere Wahl gewesen.
Im Berliner Datingleben hört man oft Sätze wie: „Ich bin offen für alles“ oder „Probiere mich aus“. Doch solche Experimente enden nicht selten in sogenannten „Situationships“ – einer Art Beziehung ohne klare Definition. Man ist irgendwie alles, nur kein offizielles Paar. Eine wirkliche Bindung scheint für viele Wahlberliner:innen eine unüberwindbare Hürde zu sein.
Vielleicht, weil die Auswahl an potenziellen Partner:innen in dieser Stadt schier unendlich wirkt. Tausende Singles könnten irgendwo da draußen sein – vielleicht besser, interessanter oder aufregender. In einer Stadt voller Möglichkeiten fällt es vielen schwer, sich auf eine einzige festzulegen. Stattdessen bleibt man in der Schwebe, immer mit einem Fuß draußen, bereit für den nächsten Swipe.
Vibe und Hype
Berlin ist und bleibt ein Ort der Selbstverwirklichung. Hier kommen Menschen zusammen, um ihre Sexualität zu erkunden, eine neue Sprache zu lernen, ein neues Outfit auszuprobieren oder einfach „den Vibe“ zu leben. Jeder, den man trifft, scheint eine bestimmte Absicht zu haben – und wenn diese erfüllt ist, zieht man weiter. Meine Absicht war genau diese Einsicht zu bekommen.
Mich zieht es zurück in die Heimat, weil ich Perspektiven brauche, die greifbar und planbar sind. Eine feste Wohnung, die Nähe zur Familie, Sauber- und Sittlichkeit. Berlin ist ein Zustand, keine Heimat. Doch sie bleibt die Stadt der grenzenlosen Möglichkeiten. Sicherlich gibt es Menschen, die sich nach
ihrem Umzug hier tatsächlich zuhause fühlen – ich finde das fast skurril (und doch bin ich etwas neidisch).

Foto/Levin Horst
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