„Letzte Woche holte er seine Klobürste hier ab“

Im Bestellrausch: Eine Reportage zum Zerfall der Berliner Kiosk-Kultur.

9. Juli 2023

Kiosk im Güntzelkiez. 

In Berlin-Wilmersdorf scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Der Güntzelkiez im Herzen des Stadtteils steht exemplarisch für kleinstädtischen Flair inmitten der Metropole. Modeboutiquen, Feinkostläden, Edeka, Döner-Imbiss, all das funktioniert hier. Die Bewohner des Kiezes kennen einander. Sie fahren zum Teil E-Auto, kaufen im Unverpacktladen und pflegen sogar das typische Großstadt-Grün, welches unter Berlinern liebevoll „Hundeklo“ genannt wird.

Ein Freitagmorgen: Nadiye Ergin, 49, besitzt den einzigen Zeitschriften- und Tabakwarenladen der Güntzelstraße, hier brennt bereits seit sechs Uhr Licht. Der dieser Tage viel umstrittene Verlag ist auch hier ein Regalfüller. Das Printangebot: umfangreich. Das für Nikotin: umfangreicher. Doch allein von Malboro Rot und BZ überlebt heutzutage wohl kein Kiosk mehr. Auf den ersten Blick passen Läden wie dieser nicht mehr in das Jahr 2023. Alles hier scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. Eine Zeit, in der das Rauchen im Restaurant als Genussmittel galt und noch niemand etwas mit dem Beruf des Influencers anfangen konnte. Das Bewerben eines Produkts und der Weg zur finalen Kaufentscheidung waren, im Vergleich zu heute, Langstrecken.

Die Entwicklungen der Digitalisierung sind die Grabträger der Toto-Lotto-Läden. Bis zum Begräbnis sind sie allerdings unverzichtbar und lebensnotwendig, ausgerechnet für diejenigen, die sie in absehbarer Zukunft zu Grabe bringen werden. Ein sofortiger Tod der altbackenen Läden käme einem kalten Entzug unserer Konsumgesellschaft gleich, die sich seit Amazon und Rabattlinks in einen Bestellrausch hat hineinziehen lassen.

Ohne den DHL-Paketshop Status wäre ein wirtschaftliches Überleben für Frau Ergins Laden auf der Güntzelstraße unmöglich. Sie braucht das lästige Geschäft durch Paketannahmen, bei welchem sie wiederkehrend die gleichen Gesichter sieht. Auch an diesem Morgen trifft blinder Bestellegoismus auf Service, Dienstleistung als Überlebenszweck. Ein adrett gekleideter Herr fordert seine sechs Pakete und jongliert diese geübt in seine Warn blickende Mercedes-S-Klasse. Er sei einer dieser „Vielbesteller“ seufzt die sonst so ausgeglichen wirkende Mitte Vierzigerin. Umgangsformen zu wahren, fällt dem ein oder anderen Besucher ihres Ladens schwer. Humor helfe, über Unfreundlichkeiten hinwegzugehen. Der seriös daherkommende Paketartist habe beispielsweise letzte Woche mit erhöhter Stimme auf Nachdruck seine Bestellung mit brisantem Inhalt zum Vollrichten des täglichen Geschäfts verlangt. Der gelabelte Karton entlarvte seine Beweggründe zur schnellen Abholung. Es werde wirklich „alles Erdenkliche“ bestellt: von der Klobürste bis zum Dior Duft.

Die Coronapandemie war der Superspreader des Onlinehandels. Fast ein Fünftel der Deutschen gibt seither mehr als 1.000 € pro Jahr online aus. Im EU-Vergleich mischt Deutschland damit unter den vorderen Plätzen mit, landet auf Platz sieben. Die Statistiken zeigen nicht nur die ungewohnte deutsche Bereitschaft des Geldausgebens, sondern auch die Häufigkeit. Rund 41 % der Deutschen bestellt mehrmals pro Monat. Das Resultat des Mehrfachklickens landet dann häufig im Kiez Kiosk, deren gesellschaftliche Relevanz treuhändisch verkauft wurde.

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